Flächendeckende
Kompatibilität
schaffen
07. Oktober 2021
Was leisten Tarifmodule nach PKM?
Jan Hoffmann (KCM), Torben Scharm (KCM) und Dr. Torsten Gründel (Fraunhofer IVI) über Tarifmodule nach Standard-PKM.
Ob eTarif NRW oder eTicket Deutschland: Nahverkehrskund*innen wünschen grenzenlose Mobilität – und die beginnt beim Ticketkauf über unterschiedliche Nutzermedien hinweg. Von den Fahrgästen weitgehend unbemerkt, stellen Tarifmodule nach PKM inzwischen die Kompatibilität von Vertriebs- und Kontrollgeräten der Verkehrsunternehmen sicher und ermöglichen es zentralen Tarifservern, Preise und Tarifprodukte passend zur Fahrt zu ermitteln. Torben Scharm und Jan Hoffmann vom Kompetenzcenter Marketing NRW (KCM) sowie Dr. Torsten Gründel vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI) erklären die IT, die Tarifinnovationen auf den Weg bringt.
Das Verkehrsministerium NRW fördert mit 1,3 Millionen Euro aus Landesmitteln die Entwicklung von standardisierten Tarifmodulen für den ÖPNV. Wofür werden diese Mittel genau verwendet?
Jan Hoffmann: Die Fördergelder erhalten wir, also das Kompetenzcenter Marketing NRW, über einen Zeitraum von vier Jahren, seit 2019 bis 2023. Im Rahmen der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW bauen wir mit diesem Geld Projekt- und Unterstützungsstrukturen, tarifübergreifende Module und Tool-Erweiterungen zur vereinfachten Pflege der Tarifdaten auf. Unser Ziel ist es, Tarifmodule nach PKM-Standard zu entwickeln und gemeinsam mit den für die Tarife verantwortlichen Verbünden auf ganz Nordrhein-Westfalen auszuweiten.
Stellvertretender Leiter Vertrieb, VRS GmbH
Was bringt der PKM-Standard für den NRW-Nahverkehr?
Torben Scharm: Die Idee hinter PKM ist, dass die bekannten Tarifstrukturen in den Verbünden erhalten bleiben und dennoch einheitlich informiert, verkauft und kontrolliert werden kann. Nicht die Tarife werden standardisiert, sondern die Tarifabbildung. Damit vollzieht sich ein grundlegender Schritt für die Einführung der eTarife in Nordrhein-Westfalen und des eTarifs NRW.
Sachbearbeiter digitaler Vertrieb, KCM
Das Fraunhofer IVI hat den PKM-Standard federführend entwickelt. Was können Tarifmodule nach PKM leisten?
Dr. Torsten Gründel: Tarifmodule nach PKM sind Dateien, die das gesamte Tarifwissen für einen bestimmten Anwendungsfall enthalten – also eine Vielzahl von miteinander verknüpften Daten, Regeln und Algorithmen. Solche Anwendungsfälle sind zum Beispiel der Verkauf und die Kontrolle von Fahrausweisen oder die automatisierte Preisermittlung für Fahrten wie beim eTarif NRW. Das Ganze lässt sich mit dem „Baukastenprinzip“ vergleichen: Aus einer Anzahl an tariflichen Fachobjekten werden die jeweils passenden ausgewählt und über frei konfigurierbare Algorithmen zur Gesamtfunktion verbunden. Eine so erzeugte Tarifabbildung lässt sich anschließend immer wieder in anderen Verkaufs- oder Kontrollsystemen nachnutzen. Gewisse Anpassungen sind dabei natürlich meist noch erforderlich. Mit PKM lassen sich grundsätzlich alle Beförderungstarife des öffentlichen Personenverkehrs digital abbilden. Der Standard schafft zudem eine notwendige Voraussetzung für tarifübergreifende Anwendungen.
Die am Fraunhofer IVI entwickelte PKM-Spezifikation wurde 2014 formal in den Branchenstandard eTicket Deutschland aufgenommen. Sie entstand im Auftrag des VDV eTicket Service unter weiterer Mitwirkung der DB Vertrieb, der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg und des Kompetenzcenters EFM beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. Das Kompetenzcenter EFM ist heute in das Kompetenzcenter Digitalisierung (KCD) integriert.
Welche Chancen gewinnen Verbünde und Unternehmen, die Tarifmodule nach PKM anwenden?
Dr. Torsten Gründel: Die heutige Tarifdatenorganisation und -pflege ist nicht selten mit einem hohen Aufwand verbunden. Dieser lässt sich mit PKM deutlich reduzieren: Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass die heute noch notwendige separate Implementierung eines Tarifs durch jeden einzelnen Hersteller entfällt. Tarifmodule nach PKM können zudem bereits außerhalb des Zielgerätes getestet werden, z. B. am PC. So lassen sich mögliche Fehler frühzeitig erkennen und vor der Integration in die Vertriebs- bzw. Kontrolltechnik korrigieren. Kombiniert man schließlich mehrere Tarifmodule, so lassen sich ganz neue tarifübergreifende Anwendungen realisieren – dieser Vorteil wird dann auch für die Fahrgäste unmittelbar erlebbar.
Abteilungsleiter Mobilität und Digitale Dienste, Fraunhofer Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI
Welche Voraussetzungen müssen Verbünde und Unternehmen mitbringen, um Tarifmodule nach PKM nutzen zu können?
Dr. Torsten Gründel: Unabhängig vom Einsatz solcher Tarifmodule stellt die Digitalisierung an den öffentlichen Verkehr neue Herausforderungen. Verkehrsunternehmen und -verbünde müssen sich darauf personell, organisatorisch und auch fachlich einstellen. Hiervon abhängig lassen sich jeweils passende Strategien zur praktischen Umsetzung von PKM entwickeln. In NRW wurde beispielsweise mit der elektronischen Kontrolle begonnen. Andere Nahverkehrsräume haben damit gestartet, PKM in Ticketautomaten umzusetzen. Hier sind immer die Gegebenheiten vor Ort zu berücksichtigen, ob beispielsweise eine Neubeschaffung von Ticketautomaten ansteht oder die Entwicklung eines neuen eTarifs für das Smartphone-Ticketing. Ein einheitlicher Standard befördert dabei den notwendigen Wissens- und Erfahrungsaustausch innerhalb der Branche.
Die Forschungsgruppe „Ticketing und Tarife“ des Fraunhofer Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI) entwickelt seit über 20 Jahren Lösungen für den öffentlichen Personenverkehr – insbesondere in den Bereichen Tarif, elektronisches und mobiles Ticketing sowie Fahrgeldmanagement. Ein Schwerpunkt dabei ist die Anwendung neuster Softwaretechnologien, welche die Handhabung und Anwendung komplexer Nahverkehrstarife grundlegend erleichtern. Die Gruppe wirkt mit an Branchenstandards und ist Partner für eine große Zahl von Verkehrsunternehmen und -verbünden sowie Industrie- und Beratungsunternehmen.
Seit diesem Jahr ist PKM ein verpflichtender Bestandteil des neusten eTicket-Deutschland-Standards. Inwieweit nutzen die Verkehrsverbünde und -unternehmen in Nordrhein-Westfalen jetzt auch PKM-Tarifmodule?
Torben Scharm: Die flächendeckende Einführung von elektronischen Tickets nach dem eTicket-Deutschland-Standard der VDV-Kernapplikation (VDV-KA) ist ja ein erklärtes Ziel. Ein wesentlicher Teil dabei ist die standardkonforme elektronische Abbildung der Tarife über die gesamte Wertschöpfungskette Information – Verkauf – Kontrolle hinweg. Vor diesem Hintergrund ist die Erstellung von Kontroll-, Produkt- und Tarifmodulen in allen Tarifräumen NRWs im Gang. Das Teilprojekt „Standard PKM“ der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW stellt sicher, dass die Kompatibilität der Module untereinander gewährleistet ist. Dadurch wird eine durchgängige Tarifierung in NRW für verschiedene Anwendungen in den Bereichen Auskunft, Vertrieb und Kontrolle ermöglicht.
Jan Hoffmann: Allerdings haben wir – trotz attestierter Bestnoten bei der Umsetzung von PKM in NRW – noch einen weiten Weg vor uns. Die Aufgaben der nächsten Jahre liegen in der flächendeckenden Einführung von PKM bei allen Verkehrsverbünden und -unternehmen in NRW und in der Etablierung des Standards bei Vertriebsprojekten und Geräteherstellern. Darüber hinaus liegt der Fokus auf der Vernetzung mit anderen großen Digitalisierungsprojekten, die im Rahmen der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW bearbeitet werden. So wird derzeit für das System der eTarife in NRW ein zentraler PKM-basierter Tarifserver durch das Fraunhofer IVI entwickelt. Er verarbeitet Module nach PKM und stellt somit die tariflichen Informationen für diverse Anwendungen über Schnittstellen zur Verfügung. Dabei handelt es sich um eine Serversoftware, die im Rechenzentrum des VRS liegt und auf den bestimmte Verkehrsunternehmen, genauer gesagt deren Hintergrundsysteme zugreifen können. Aufgabe dieses Tarifservers ist die Ermittlung von Preisen für ÖPNV-Fahrten.
Wie muss man sich den zentralen Tarifserver vorstellen?
Dr. Torsten Gründel: Tarifrechner sind Softwarekomponenten, die der Preis- und Produktermittlung dienen, und zwar auf der Basis einer ganz konkreten Fahrt. Diese kann als Verbindungsauskunft vor Reiseantritt vorliegen oder von einer App registriert werden wie beim eTarif NRW. Beim Einsatz innerhalb eines Nahverkehrsraumes wird ein Tarifmodul des jeweiligen Verbundtarifs benötigt, welches alle notwendigen tariflichen Informationen für den Tarifrechner enthält. Dieser extrahiert daraus die gewünschten Preise bzw. Tarifprodukte, indem er den im Tarifmodul enthaltenen Algorithmus ausführt. Es ist auch möglich, Tarifrechner für übergreifende Anwendungen einzusetzen. Dann kommen mehrere Tarifmodule zum Einsatz. Zusätzlich bedarf es dann eines koordinierenden Tarifmoduls. Dieses sorgt für die korrekte tarifliche Zuordnung aller Teilstrecken zum passenden Tarif.
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