Der Think Tank Demos Helsinki hat 2020 einem Ansatz für die finnische Regierung, Reformen als lernendes System anzugehen, die Überschrift „Humble Government“ gegeben. Gemeint ist ein Regieren im Sinne langfristiger Politikgestaltung, das nicht Allwissenheit behauptet, sondern Korrekturen von vornherein mitdenkt.
Kollektives Lernen
im starken Netzwerk
17. Dezember 2024
Die Digitalisierungsoffensive als lernende Strategie
In einem umfassenden Dialogprozess stellt sich die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW für die Zukunft neu auf – als lernende Strategie mit einem klaren Ziel vor Augen: moderne digitale Mobilitätslösungen zu entwickeln, die landesweit für alle Menschen gut nutzbar sind.
Nach dem ersten ÖPNV-DigiCamp NRW im September 2023 haben die Akteur:innen in der ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW in verschiedenen Workshops intensiv an einer Neuausrichtung ihrer Zusammenarbeit gefeilt, um dem Fortschritt der Mobilität langfristig begegnen zu können. Ein Jahr lang galt es, strategische Ziele zu definieren, Strukturen der Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und die fachlichen Handlungsfelder zukünftiger Digitalisierungsprojekte gemeinsam zu erarbeiten Die Ergebnisse wurden beim zweiten ÖPNV-DigiCamp NRW am 11. September 2024 mit etwa 80 Teilnehmenden vertiefend diskutiert und konsolidiert. Die Dokumentation liegt jetzt vor.
Digitale Lösungen gemeinsam voranbringen
Der Wandel vom „klassischen“ ÖPNV hin zur digitalen Mobilität muss sich fortlaufend an geänderten gesetzlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausrichten, gleichzeitig neue technologische Entwicklungen aufgreifen und konkrete Interessen der Branche bearbeiten. Vor diesem Hintergrund folgt die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW der Idee des „Humble Governments“ und seiner lernenden Strategie. Denn Lösungen komplexer Probleme sind nicht immer im Vorfeld bekannt. In der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW werden deshalb relevante Stakeholder:innen mit in den Prozess einbezogen. Durch Formate wie das DigiCamp oder die digitale Kooperationsplattform können alle Akteur:innen ihre Projektideen einbringen. Egal ob Verkehrsunternehmen oder Kommunen – das Netzwerk lebt von dieser Vielfalt und der Offenheit für neue Impulse.
Humble Government
Den Austausch kontinuierlich weiterentwickeln
Die lernende Strategie fördert ein klares Ziel: moderne, digitale Mobilitätslösungen zu realisieren, die in ganz NRW nutzbar sind. Landesweit sollen alle Menschen von einer verlässlichen Reisekette profitieren – mit einem einfachen, flächendeckenden, barrierearmen und somit attraktiven Zugang zu multimodaler Mobilität. Dafür setzt die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW auf die Kraft der Gemeinschaft, verbindet die Akteursgruppen aus Verkehrsverbünden, Zweckverbänden und Aufgabenträgern, Verkehrsunternehmen und Kommunen sowie der politischen Ebene des Landesverkehrsministeriums zu einem starken Netzwerk und entwickelt den Austausch in der Nahverkehrsbranche kontinuierlich weiter.
Die lernende Strategie der ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW ist zukunftsweisend, da sie kontinuierliche Verbesserung durch kollektives Lernen ermöglicht. Durch die Agilität des Programms wird der Dynamik der ÖPNV-Branche Rechnung getragen. Sie schafft einen Rahmen für innovative Projekte, die zu einer nachhaltigen Mobilität beitragen und den Zugang zum ÖPNV erleichtern sollen.
Mit klaren Strukturen arbeiten
Nach der Idee von „Humble Government und lernender Strategie“ will sich die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW zukünftig durch vier zentrale, aufeinander wirkende Maßnahmen organisieren. Die erste Maßnahme bildet ein Memorandum of Understanding, das die übergreifende gemeinsame Vision für die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch beschreibt sowie Rahmenbedingungen und strategische Leitplanken wie technologische oder rechtliche Anpassung darlegt. Es soll nach dem Votum der Teilnehmenden des ÖPNV-DigiCamps bis zum Frühjahr 2025 aufgesetzt und durch Partner:innen, die an der Digitalisierungsoffensive mitwirken möchten, unterzeichnet werden. Die zweite Maßnahme stellt der Beirat der ÖPNV-Digitalisierungsoffensive, kurz DO-Beirat, dar. Dieser beschließt das Programm der Digitalisierungsoffensive, diskutiert aktuelle Trends und Projektmeilensteine und setzt die Formate für den Austausch und die Vernetzung der ÖPNV-Landschaft. Dabei ist er nicht nur strategisches Steuerungselement, sondern auch offen für Impulse aus der gesamten ÖPNV-Landschaft. Ideen und Anregungen können hier Gehör finden und in die gemeinsame Arbeit einfließen. Mitglieder des Bereits sind die Unterzeichner:innen des Memorandums, das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr NRW als Impulsgeber sowie das Kompetenzcenter Digitalisierung, das Kompetenzcenter Marketing und die Zentrale Koordinierungsstelle für den ÖV-Datenverbund, die auch für die Koordination der Netzwerk- und Projektarbeit verantwortlich zeichnen. Das Programm beschreibt den inhaltlichen Fokus der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW und die aktuellen inhaltlichen Handlungsfelder. An den Handlungsfeldern richten sich die konkreten Projekte aus. Diese bilden den Kern der ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW, treiben das aktuelle Programm voran und formen die zukünftige Ausgestaltung der Offensive selbst.
Fachliche Handlungsfelder mit Projekten füllen
Nach den bereits im ersten ÖPNV-DigiCamp NRW skizzierten Ideen zur Weiterentwicklung von Digitalisierungszielen, wurden in den 14 Sessions des diesjährigen Camps Projektideen und Herausforderungen gesammelt, die sich den neu definierten Handlungsfeldern der Digitalisierungsoffensive zuordnen lassen. Die Schwerpunkte lagen in diesem Jahr auf den Handlungsfeldern „Information und Datenqualität“ sowie „Vertrieb der Zukunft“. Hier wurden aktuelle Ausgangssituationen analysiert, Probleme und offene Fragen identifiziert sowie Lösungsansätze entwickelt und – wo möglich – auch konkrete nächste Schritte festgehalten. Barrierefreiheit spielte als Querschnittsthema eine Rolle. Zusätzlich widmete sich eine Session der geplanten zentralen Kooperationsplattform der ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW: ein wichtiger Baustein für die zukünftige digitale Zusammenarbeit und den Austausch.
Für den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Vertrieb sind nach wie vor viele rechtliche Fragen offen, da die Nutzung von KI bisher kaum im öffentlichen Bereich stattfindet. Es bedarf eines Werkzeugs zur Unterstützung bei den notwendigen Prozessen und ein Standard-Dokument zur Einhaltung des Datenschutzes beim Einsatz von KI.
Die Kosten für den Vertrieb sind mit der Einführung des Deutschlandtickets stark angestiegen – auch weil neben den digitalen Vertriebskanälen unverändert analoge Verkaufsstellen fortgeführt werden und der Digitalvertrieb aufgrund seiner Kleinteiligkeit Ineffizienzen aufweist. Eine stärkere Zentralisierung im digitalen Vertrieb könnte sowohl Fixkosten als auch variable Kosten senken. Die Entwicklung eines Zielbilds für den digitalen Vertrieb inkl. Anforderungen und Möglichkeiten wird als notwendige Aufgabe angesehen.
Die Rolle von Account-Based Ticketing (ABT) ist im Vertrieb der Zukunft noch unklar. Wie kommen wir zu einem System, welches bundesweit funktioniert? Was kommt vertrieblich auf die Akteur:innen zu und wie erfolgt die technische Umsetzung? Welchen Mehrwert hat ABT im Vergleich zum ID-Ticketing? Um ein detailliertes gemeinsames Bild bezüglich des Einsatzes von ABT zu schaffen, wird die Entwicklung von Use Cases sowie die Zusammenfassung der Mehrwerte als sinnvoll erachtet. Ebenfalls wurde eine Einbettung in (((etiCORE sowie die Schaffung eines gemeinsamen Standards für ABT aus NRW für Deutschland als mögliche Aufgaben gesehen.
Die technische Verknüpfung zwischen eezy.nrw und dem niederländischen CiBo-Pendant ist im Oktober 2024 auf der Pilotstrecke von easyConnect zwischen Maastricht und Köln live geschaltet worden. Darüber hinaus besteht die Vision einer Ausweitung auf die gesamten Niederlande und Nordrhein-Westfalen sowie die Anbindung von Belgien zur Vereinfachung des grenzüberschreitenden ÖPNVs im Dreiländereck. Eine zentrale Herausforderung ist die Kontrolle der Tickets. Im Pilotprojekt werden die einzelnen Verkehrsunternehmen die jeweils einpendelnden Barcodes aus dem Ausland anerkennen. Diese Praxis ist bei einer Skalierung auf großflächige Gebiete und somit einer deutlich erhöhten Anzahl an teilnehmenden Verkehrsunternehmen nicht mehr praktikabel. Somit muss für eine Ausweitung über den Pilotkorridor hinaus eine Lösung gefunden werden.
Eltern haben zur sicheren Beförderung ihrer Kinder die Erwartungshaltung, dass der Schulbus zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Die Bindung dieser Kundengruppe und Gewinnung neuer Kund:innen ist eine wichtige Maßnahme. Zur Optimierung des Schülerverkehrs werden Daten von Schulen benötigt, deren Übertragung aus datenschutzrechtlichen Gründen bislang nicht möglich ist. Zur Sicherung des Datenschutzes müssen also konkrete Standards entwickelt werden.
In der digitalen Transformation des öffentlichen Personennahverkehrs spielen Mobilitätsdaten eine zentrale Rolle. Diese Daten bieten enormes Potenzial, um das Angebot zu verbessern, Fahrgastströme zu optimieren und neue Dienste zu entwickeln. Gleichzeitig muss jedoch sichergestellt werden, dass der Umgang mit diesen Daten den strengen Anforderungen des Datenschutzes entspricht. In dieser Session wurden innovative Technologien und Methoden vorgestellt, die es ermöglichen, Mobilitätsdaten sicher und datenschutzkonform zu nutzen, ohne auf die Vorteile der Digitalisierung zu verzichten.
Die Digitalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs eröffnet neue Möglichkeiten, den Service zu verbessern, effizienter zu arbeiten und die Kundenbindung zu stärken. Gleichzeitig stellt die Verarbeitung großer Mengen personenbezogener Daten Ver-kehrsunternehmen vor erhebliche Herausforderungen. Diese Session bot einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Datenschutzaspekte, die bei der Digitalisierung des ÖPNV zu berücksichtigen sind. Es wurden praxiserprobte Strategien und innovative Ansätze vorgestellt, um den Datenschutz nicht nur einzuhalten, sondern als positiven Differenzierungsfaktor zu nutzen.
Oftmals wird der Fokus im Vertrieb auf den Verkauf von Produkten und weniger auf den After-Sales gelegt; After Sales bezieht sich hier auf alle dem Kauf nachgelagerten Prozesse, sowohl kunden- als auch unternehmensseitig. Bei der Anforderungsermittlung und der Konzeption von Systemen wird den Themen Controlling und Reporting wenig bis kaum Aufmerksamkeit gewidmet, sodass notwendige Daten nach der Inbetriebnahme von Systemen nicht oder nur mit hohem Aufwand gezogen werden können. Zur Auswertung der häufig vorhandenen Daten bedarf es in den Unternehmen Personal mit der entsprechenden Qualifizierung hinsichtlich Big Data. Zudem würde die Entwicklung und Implementierung von Standard-KPIs und Reportings das Anforderungsmanagement an Systeme deutlich erleichtern und damit Aufwand reduzieren.
Die Stärkung bzw. Ausweitung von zentralen Systemen im Vertrieb und in der Fahrgastinformation bietet Vorteile, führt jedoch gleichzeitig zu einer stärkeren Herstellerabhängigkeit. Die Bildung einer Initiative zu diesem Thema sollte das Ziel sein, um zukünftig gemeinsam zentrale Systeme im Vertrieb und der Fahrgastinformation vorantreiben zu können. Die Einigung auf ein Zielbild ist eine grundlegende Voraussetzung für weitere Zentralisierung. Das Thema Open Source bietet dabei einen möglichen Lösungsansatz. Offene Klärungsbedarfe bestehen weiterhin in den Bereichen Finanzierung, Zuständigkeiten, betriebliche Organisation und Datenschutz. Als konkrete Aufgaben wurde die Gründung einer Special-Interest Group zu zentralen Systemen genannt. Diese sollte u. a. zu den Themen Zentralisierung, Open Source und digitale Souveränität, zunächst am Beispiel CRM, ein Zielbild entwickeln.
Die Datenqualität in der Fahrgastinformation wird an vielen Stellen als unzureichend er-achtet. Die fehlenden Informationen zur Barrierefreiheit werden ebenso bemängelt wie uneinheitliche Datenverwertung, die zu „Zombie-Verspätungen“ zwischen App und Anzeige führt. Kleinere Abweichungen fallen täglich an. Zudem wird auf die Parallelität bei ITCS in eine vertriebliche und eine betriebliche Welt als Herausforderung hingewiesen.
Derzeit werden multimodale Apps nur von wenigen Nutzer:innen verwendet. Bürger:innen, die neben dem ÖPNV auch andere Mobilitätsoptionen in Betracht ziehen, nutzen entsprechende Spezial-Apps für ihren gewählten Modus (z.B. Fahrrad- oder Car-Sharing-Apps). Daher stellte sich in der Session die Frage, ob eine allumfassende App oder mehrere zielgruppenspezifische Apps Kundenbedürfnisse erfüllen können. Aus der Diskussion wurde deutlich, dass grundlegende Anforderungen wie z.B. eine hohe Qualität, ein passendes Angebot und Routinen im ÖPNV ausschlaggebend sind, um das Mobilitätsverhalten von Menschen langfristig zu verändern.
Der Zukunftsvertrag NRW legt die Grundlage für eine nachhaltige Etablierung von On-Demand-Verkehren. Dabei ist die Zielvision, On-Demand-Mobilität als ergänzende Säule des ÖPNV aufzubauen. Dies wird in einem Gesamtprojekt für On-Demand-Ridepooling in NRW in Federführung des Kompetenzcenters Digitalisierung umgesetzt.
Die Multimodale Datendrehscheibe NRW (MDD) bildet das Fundament für multimodale Mobilität im ÖPNV in NRW. In der MDD werden Daten zu Ausstattung, Standort, Verfügbarkeiten etc. von multimodalen Mobilitätsoptionen gebündelt. Zur Umsetzung wurden standardisierte Datenüberlassungsverträge zwischen der MDD NRW und 15 privaten Sharing-Anbietern geschlossen. Zudem sind landesweite ÖPNV-Hintergrundsysteme, wie radbox.nrw, DeinRadschloss, die VRR Mobilitäts- und Infrastrukturplattform (MIP) oder der go.Rheinland Infrastrukturatlas, an die multimodale Datendrehscheibe als Datenlieferanten angebunden. Was sind weitere mögliche Einsatzzwecke von multimodalen Daten in der Praxis? Anbieter von Mobilitätsangeboten können auf die MDD NRW als Datenlieferanten zukommen. Interessierte Datennutzer:innen können sich über Einsatzzwecke von Mobilitätsdaten beraten lassen.
Informationen zum ÖPNV in NRW sind dezentral verteilt und so ist es aufwendig, notwendiges Wissen digital zusammenzutragen. Darüber hinaus sind die richtigen Ansprechpersonen für konkrete Anliegen und Ideen nicht immer einfach auffindbar. Oft kommt es vor, dass Gremieninformationen per E-Mail versendet und nicht zentral verfügbar sind. Eine Lösung für dieses Problem bietet die Einführung einer zentralen digitalen Kooperationsplattform, die u. a. das Gremien- und Event- sowie Dokumentenmanagement und eine Möglichkeit zum Netzwerken beinhaltet. Auch Abstimmungen und die Veröffentlichung von Ausschreibungen und Förderprogrammen sollen über die Plattform verfügbar gemacht werden.
Nächste Schritte und Ausblick
Auf das zweite ÖPNV-DigiCamp NRW folgt die konkrete Umsetzung von Ergebnissen und Arbeitsaufträgen im kommenden Jahr: Der Beirat als neues Gremium wird sich konstituieren, das Memorandum of Understanding wird verfasst und unterzeichnet, ein Handbuch und ein Programmheft werden aufgelegt, um die neuen Projetideen umsetzen zu können. Dadurch entstehen handfeste Vorteile für alle Akteur:innen, die in der ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW zusammenarbeiten und dort ihr Knowhow ebenso wie ihre Ideen einbringen möchten: Sie profitieren von spannenden Beteiligungs- und Austauschformaten zur digitalen Mobilität ebenso wie von einem effizienteren Projektmanagement und der gezielten Unterstützung bei Herausforderungen. Die neuen Beteiligungs- und Austauschformate machen die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW zur Anlaufstelle für alle, die Ideen für die Mobilität der Zukunft haben. Das Netzwerk fördert einen offenen Dialog und unterstützt aktiv bei der Umsetzung innovativer Projekte.
Die ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW steht allen offen, die eine Idee für ein digitales Projekt haben. Sie bietet eine Plattform, um diese Ideen zu entwickeln, umzusetzen und von einem starken Netzwerk zu profitieren.
Bildnachweise: Header © Kompetenzcenter Digitalisierung NRW;
Grafiken © ÖPNV-Digitalisierungsoffensive NRW
