Barrieren im ÖPNV
digital überwinden
28. Mai 2024
Mit Digitalisierung mehr Mobilität für alle schaffen
Echte Barrierefreiheit im ÖPNV ist eine Aufgabe, die mit Tempo angepackt werden muss. Digitalisierungsprojekte können dabei helfen – vorausgesetzt, sie sind selbst barrierefrei. Nadja Ullrich von der Aktion Mensch erklärt, worauf es ankommt.
Wann kommt das nächste Fahrzeug? Um welche Linie handelt es sich? Wo kann ich ohne Hindernisse zusteigen? Diese Fragen stellen nicht nur Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, sondern beispielsweise auch Eltern mit Kinderwagen oder Reisende mit schwerem Gepäck. Wer mit Bussen und Bahnen mobil sein will, braucht Informationen zur Orientierung. Denn eine durchgängig barrierearme Reise beginnt nicht erst an der Haltestelle, sondern schon vorher: mit der einfachen Nutzung einer Mobilitätsapp. Im Interview erklärt Nadja Ullrich, Referentin für Digitale Teilhabe und Mobilität bei der Aktion Mensch e.V., wie Digitalisierungsprojekte die Barrierefreiheit im ÖPNV fördern können und was dabei zu beachten ist.
Barrierefreiheit gilt als wichtiges Qualitätsmerkmal öffentlicher Mobilität und der ÖPNV in Deutschland soll bis 2026 barrierefrei sein. Wo sehen Sie Fortschritte und was ist noch zu tun?
Nadja Ullrich: Das Thema Barrierefreiheit im ÖPNV ist in den vergangenen Jahren auf jeden Fall viel präsenter geworden und wird an vielen Stellen auch umgesetzt, zum Beispiel durch bauliche Maßnahmen bei Bushaltestellen oder Bahnhöfen. Unser Inklusionsbarometer Mobilität 2022 zeigt aber, dass Barrierefreiheit mehr sein muss als eine einmalige Baumaßnahme. Kaputte Fahrstühle, fehlende Rampen, zu enge Gänge oder gesperrte Zugänge an Haltestellen und Stationen sind ein Dauerzustand, der Menschen mit Beeinträchtigung das Leben schwermacht. Ein weites Feld fehlender Barrierefreiheit ist auch die Fahrgastinformation. Fahrpläne sind schlecht zu lesen, Ticketautomaten zu kompliziert. Unabhängig von einer Beeinträchtigung meinen 53 Prozent aller Deutschen, dass Durchsagen am Bahnhof schwer verständlich sind. Auch Webseiten und Apps sind für viele Nutzer:innen schlichtweg zu unübersichtlich.
Inklusionsbarometer Mobilität 2022
In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit körperlichen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Vielfältige Barrieren hindern sie an einer unabhängigen, gleichberechtigten Lebensgestaltung – insbesondere im Bereich der Mobilität, wie die Aktion Mensch in einer umfassenden Studie aufgezeigt hat. Das Inklusionsbarometer Mobilität 2022 wurde unter Beteiligung von 1.500 Menschen mit und ohne Beeinträchtigung erstellt und macht die Handlungsfelder für eine inklusivere Mobilität in Deutschland sichtbar.
Für das Inklusionsbarometer wurden sechs Dimensionen von Mobilität definiert: Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Zeit und Kosten, Soziale Aspekte, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Wie inklusiv sind die digitalen Services im ÖPNV und welche Chancen bieten sie?
Nadja Ullrich: Viele der digitalen Projekte im ÖPNV eröffnen Menschen mit Beeinträchtigung prinzipiell einen selbstbestimmten Zugang zu Informationen und Mobilitätsangeboten, der vor – sagen wir - 20 Jahren noch undenkbar war. Gerade in den Bereichen Fahrplaninformation, Reiseplanung, Ticketkauf, Navigation und Orientierung können digitale Services Barrierefreiheit erheblich fördern. Für ein selbstbestimmtes und sicheres Unterwegssein müssen sie aber so gestaltet sind, dass jeder sie nutzen kann. Die Prinzipien dabei sind Wahrnehmbarkeit, einfache Bedienbarkeit und Verständlichkeit sowie Robustheit, d.h., dass die Anwendung zum Beispiel mit einem Screenreader kompatibel ist. Die eher moderaten Ergebnisse des Inklusionsbarometers Mobilität 2022 zur Nutzung von digitalen Angeboten lassen auf jeden Fall vermuten, dass digitale Mobilitätsangebote bei vielen Menschen aufgrund komplizierter Handhabung oder fehlender Zugänglichkeit noch nicht angekommen sind.
Eine nicht-barrierefreie digitale Anwendung ist genauso wenig zugänglich wie die Treppe im Gebäude. Wenn wir also bei der Digitalisierung im ÖPNV die Barrierefreiheit vergessen, bauen wir genau da Hürden wieder auf, wo wir sie effektiv und zum Nutzen der Menschen abbauen könnten.
Referentin für Digitale Teilhabe und Mobilität bei der Aktion Mensch e.V
Welche digitalen Services sind für Menschen mit Beeinträchtigung im ÖPNV wirklich sinnvoll?
Nadja Ullrich: Sinnvoll ist alles, was eine durchgehende, selbstbestimmte Mobilitätsplanung möglich macht. Eigentlich brauchen doch alle Fahrgäste im ÖPNV Anwendungen mit gleich strukturierten Oberflächen und einfacher Sprache für eine gute Verständlichkeit und Bedienbarkeit. Dabei gibt es für Mobilitätsapps durchaus konkrete, wünschenswerte Anforderungen wie eine barrierefreie Routenführung oder die Möglichkeit zur barrierefreien Buchung von Tickets. Darüber hinaus sind Menschen mit Beeinträchtigung auf umfassende Echtzeit-Informationen angewiesen – das gilt für Baustellen und Verspätungen ebenso wie für defekte Aufzüge oder Rolltreppen.
Digitale Projekte für die individuelle Mobilität
Mit ihren Projekten und Teilprojekten unterstützt die ÖPNV Digitalisierungsoffensive NRW eine moderne, einheitliche und durchgängige Informations- und Dienstleistungslandschaft, die allen Bus- und Bahnkunden in NRW flexible Mobilität ermöglicht. Hier fünf Teilprojekte, die insbesondere auch der Barrierefreiheit dienen:
Was ist jetzt wichtig, damit Barrierefreiheit in der öffentlichen Mobilität erreicht wird?
Nadja Ullrich: Besonders wichtig ist für mich, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht nur punktuell, sondern durchgehend in die Planung und Umsetzung von Mobilitätslösungen eingebunden werden. Denn sie wissen am besten, welche Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen. Hier sollten gesetzliche Regelungen klar und auch einklagbar sein.
Wichtig ist mir zudem, jenseits von bisherigen Insellösungen ein inklusives ganzheitliches Modell für Mobilität zu entwickeln, das einen Mehrwert für alle Menschen – mit und ohne Beeinträchtigung – schafft. Mit ENABLE haben wir bei der Aktion Mensch gemeinsam mit dem Wissenschaftler:innen des Institutes für Psychologie und des Instituts für Kraftfahrzeuge der RWTH Aachen ein Konzept dafür vorgelegt. Durch gezielte Befragungen von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen haben wir vier übergeordnete Bedürfnisse ermittelt: Autonomie, Flexibilität, Akzeptanz und Information. In weiteren Schritten haben wir ein dreiteiliges Modell entwickelt, das aus Daten zu den Nutzungsvoraussetzungen, einem digitalen Reisebegleiter sowie einer autonomen Transportlösung besteht. Derzeit beschäftigen wir uns vor allem mit den Voraussetzungen für einen digitalen Reisebegleiter, die wir gemeinsam mit Menschen mit Beeinträchtigung entwickeln wollen. Hierfür werden wir Testszenarien für Workshops mit Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen entwickeln.
Header: © VRR; Porträt Nadja Ullrich: © privat